Sport im Untersuchungsgefängnis: «Sport öffnet die Menschen»

7. Januar 2022

Draussen scheint die Sonne. Drinnen in der Sporthalle läuft eine Dame unermüdlich ihre Runden, zwei andere spielen Tischtennis. Später: Mehrere Männer powern sich lauthals aus, mit Badminton, Basketball und Tischtennis. Ein ganz normaler Morgen in einer Turnhalle? Keineswegs, denn die, die drinnen sind, kommen so schnell nicht hinaus: Wir befinden uns im Untersuchungsgefängnis des Kantons Basel-Stadt.

Gerade mal eine Stunde pro Tag können sich die Insassen auf einem durch ein Gitter überdachten Innenhof unter «freiem» Himmel bewegen und – sofern sie das möchten – eine Stunde pro Woche am Sportunterricht teilnehmen. Dieser wird von einem Sportlehrer bzw. bei den Frauen von einer Sportlehrerin angeleitet. Sport im Gefängnis - unnötig, überflüssig, purer Luxus?

Abwechslung im Gefängnisalltag

Eins steht fest: Der Sportlehrer und die Sportlehrerin des Untersuchungsgefängnisses (UG) sind sehr engagiert. Es geht ihnen ums Wohlbefinden der Teilnehmenden, um die Verbesserung der psychischen und physischen Gesundheit, ungeachtet der Tat, die sie (vermeintlich) begangen haben. Denn das Leben in einem Gefängnis, zumal in Untersuchungshaft, in der noch die Unschuldsvermutung gilt, ist ein Ausnahmezustand für die Insassen.

«Ich komme hierher um Sport zu vermitteln», meint Carmen Zatta, die Turnlehrerin der Frauen, «damit habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht». Die Frauen sollen sich eine Stunde bewegen können, um nachher mit einem positiven Gefühl auf die Station zurückzugehen. «Der Sport ist eine Abwechslung im Gefängnisalltag. Die Frauen kommen gerne und erzählen manchmal aus ihrem Leben. Ich höre zu, aber ich urteile nicht.» Die Sportlehrerin muss sehr flexibel sein, sich jede Woche neu auf die Gruppe einstimmen. Sie weiss nie, wie viele Personen tatsächlich teilnehmen werden; vielleicht eine, vielleicht fünf. Und sie muss auf deren Verfassung Rücksicht nehmen. Es gibt Frauen, die aus gesundheitlichen Gründen nur bedingt Sport betreiben können. Suchtkranke Personen zum Beispiel oder solche mit psychischen Problemen haben oft Konzentrationsprobleme wegen der Medikamente. Sie geniessen es dennoch, eine Stunde weg von der Station zu sein. Einzelne Frauen wünschen einen abwechslungsreichen Unterricht. Zatta versucht eine Balance zu finden und soweit möglich alle Frauen einzubeziehen. Gestartet wird immer gemeinsam mit Einlaufen, gefolgt von einem Gymnastikteil. Das weitere Programm hängt von der Situation ab: Basketball, Badminton, Tischtennis, je nach Gruppendynamik. Wer nicht mitmachen mag, kann herumspazieren oder sich am Rand ausruhen und zuschauen. Das ist in Ordnung, denn Sport im Untersuchungsgefängnis ist für alle freiwillig.

Aktiv gegen den Bewegungsmangel

Menschen in Freiheit können sich ständig bewegen, kürzere und längere Strecken zurücklegen. Im Gefängnis ist der Bewegungsradius sehr eingeschränkt. Die Personen sind tagsüber beschäftigt mit Anwaltsbesuchen und Einvernahmen oder sie arbeiten in der Küche und in der Produktion, um etwas Geld zu verdienen. Ansonsten läuft wenig und die meisten Eingewiesenen leiden an Bewegungsmangel. Das Aufsichtspersonal ermuntert die Insassen, sich zu bewegen. Man legt ihnen ans Herz, zumindest die tägliche Stunde Hofgang an der frischen Luft gut zu nutzen. Der Hofgang ist Pflicht. Wer nicht geht, bleibt eine Stunde in der Zelle eingeschlossen, hat also noch weniger Bewegungsfreiheit. Es gibt Eingewiesene, die mit der Zeit selber merken, dass Bewegung draussen im Hof wichtig ist, weil sie sonst einrosten. Plötzlich treten gesundheitliche Probleme auf wie zum Beispiel Verdauungsbeschwerden. Dann geht es ihnen psychisch immer schlechter und wir müssen den Arzt involvieren. Auch er motiviert sie, zu nutzen, was angeboten wird. «Das wirkt bei einigen, bei anderen nicht», sagt Simone Mummenthaler, Leiterin der Vollzugskoordination im UG und Ansprechperson für die Sportlehrerin und den Sportlehrer.

Bewusstsein für Gesundheit

Viele Inhaftierten sind beim Eintritt offenbar eher unsportlich. Sie haben früher in Freiheit wenig bis keinen Sport gemacht, kennen das Prinzip von körperlicher Fitness nicht. Zum Teil ist das kulturbedingt, denn in vielen Heimatländern sind Turnhallen und Turngeräte selten. Sie sind im Unterricht zuerst überfordert und fragen sich, was in aller Welt sie denn hier machen sollen. Dazu kommt, dass im Gefängnis alle einen grossen Rucksack tragen, gefüllt mit schwierigen Geschichten und bedrückenden Erfahrungen. Lassen sie sich aber ein auf den Sportunterricht, dann geht es ihnen danach besser, zumindest für eine Weile. Einige Personen machen – motiviert durch den Sportunterricht - in der Zelle die Übungen weiter und berichten im Unterricht voller Stolz von den Fortschritten. «Das sind Gymnastikübungen, die sie am Boden machen können und Gleichgewichtsübungen, die wir in der Sportstunde üben», erklärt Carmen Zatta.

Simone Mummenthaler kann diese Erfahrung bestätigen und ergänzt: «Es ist doch so, dass jede Frau schlank werden oder bleiben möchte. Dann geht sie vermehrt zum medizinischen Dienst. Sie möchte sich wägen und schauen, ob der Sport gefruchtet hat und sie 500 Gramm leichter geworden ist. Das kann sich auch auf die Ernährung auswirken. Plötzlich will sie keinen Eistee mehr trinken oder nur noch verdünnten, um die Zuckermenge zu reduzieren. Und sie stellt der Sportlehrerin oder der Aufsichtsperson Fragen zur Gesundheit.»

 

Sport in der Zelle – mit Eigengewicht

Auf dem Spazierhof sind Bügel an der Wand fixiert. Daneben hängen Anleitungen für Übungen wie Klimmzüge und andere Kraftübungen. Manche Männer joggen eine Stunde lang im Freien. Im Sommer sind viele lieber am «sünnele» als am Sport machen.

Im wöchentlichen Sportunterricht lässt die Gruppengrösse bei den Männern in der Regel Mannschaftsspiele zu, Fussball zum Beispiel. Da geht es laut zu und her. Es wird debattiert, ob ein Goal zählt oder nicht, denn wer spielt, will gewinnen, und bei Fouls werden einzelne wütend. Das ist im Gefängnis nicht anders als ausserhalb. Die Turnstunde gibt den Inhaftierten die Möglichkeit sich auszupowern, denn auf den Stationen gibt es keine Sportgeräte. Nur in der Jugendabteilung steht ein Pingpongtisch. Eine sinnvolle Ergänzung sind Übungen mit Eigengewicht, die man in der Zelle machen kann: Liegestützen, Rumpfbeugen und anderes. Die Männer trainieren erfahrungsgemäss öfter in ihren Zellen als die Frauen. Sie wollen Muskeln aufbauen. Manchmal hängen sie sich ans Fenstergitter und machen Klimmzüge. Das ist zwar verboten, lässt sich jedoch schwer kontrollieren. Wer interessiert ist, erhält auch Tipps der Zellenaufsicht. Manche Stationen haben so eine Art sportlichen Anführer, der die andern motiviert und mitzieht. Manchmal werden muskulöse Personen eingewiesen, die sich draussen Hormone gespritzt haben. Im Gefängnis geht das nicht mehr. Dies hat Auswirkungen auf die Psyche und kann in Depression umschlagen.

Yoga im Knast

«Was mich am Sport im Gefängnis reizt, sind die unterschiedlichen Nationalitäten und Sprachen. Wenn ich sprachlich nicht weiterkomme, dann machen wir das mit Händen und Füssen. Es ist schön, dem Menschen innerhalb ihres Daseins eine gewisse Hilfe zu leisten, sie von ihrer Routine abzulenken. Sport öffnet die Menschen», erklärt der Sportlehrer der Männer. In gewissem Sinne sei es leichter, im Gefängnis zu unterrichten als in einer Schule, weil sich die Gefangenen bewusst sind, dass sie keine Fehler machen dürfen. Schulkinder hingegen reizen die Situation gerne aus und stören den Unterricht, wenn sie keine Lust haben. Im Gefängnis kommen die Leute freiwillig und sind motiviert. Einige müssen jedoch zuerst ein paar Grundregeln lernen, zum Beispiel, dass man in einer Turnhalle nicht auf den Boden spucken darf.

Der studierte Sportlehrer mit therapeutischem Hintergrund ist ausgebildet in Prävention und Rehabilitation. Das kommt den Menschen im Gefängnis zugute, denn viele sind psychisch sehr belastet und leiden unter Verspannungen. Mit Yoga können diese gelockert werden. Bei kleinen und homogenen Gruppen, wenn mehrere selbstständig Fussball oder Basketball spielen, kann er sich für eine Weile einer einzelnen Person widmen, wenn diese den Wunsch dazu äussert. Dafür muss er jedoch erst Vertrauen aufbauen. Der engagierte Sportlehrer kommt ins Sinnieren: «Wenn ich Gymnastik unterrichten möchte, muss ich individuell arbeiten. Das geht nicht mit 10 oder 12 Männern. Mit ihnen mache ich eher klassische Mannschaftssportarten. Mein Wunschkonzept wäre jedoch, individuell auf die Personen einzugehen, denn das gehört zum sporttherapeutischen Auftrag. Auf jeden Fall gebe ich den Männern Tipps, was sie in den Zellen selber machen können. Wir haben manchmal Leute, die früher semiprofessionelle Fussballer waren. Mit ihnen mache ich nun Yoga.» Diesen Sportler würde der Trainer gerne eine Faszienrolle in die Zelle mitgeben. Aus Sicherheitsgründen ist dies jedoch nicht erlaubt. Ebenso wenig Tennisbälle, um die Fusssohlen zu massieren, oder Golfbälle, um ganz gezielt Verspannungen zu lösen.

Von nachtaktiv zu tagaktiv

Die geleitete Sportstunde findet ausschliesslich in der Turnhalle statt. Im Spazierhof sind keine Ballspiele erlaubt. Es gab zu viele Verletzungen, denn die Leute haben sich nicht aufgewärmt, sondern sind den Sport sofort mit hoher Intensität angegangen und haben sich Bänderverletzungen geholt. In der Halle gibt es selten Verletzungen, denn die Sportlehrer achten sehr aufs richtige Aufwärmen. Die erste Sportstunde beginnt um 8.20 Uhr. Das bedingt, dass man zuvor aufsteht. Im UG gibt es viele «Siebenschläfer», die zuerst ihren Lebenswandel von nachtaktiv auf tagaktiv umstellen müssen. Sie waren draussen in Freiheit in der Regel nachts unterwegs. Die Leute müssen erst lernen, abends irgendwann ins Bett zu gehen und morgens aufzustehen. «Leute im Berufsleben können das, aber unsere Nachtschwärmer müssen sich erst daran gewöhnen. Wir haben regelmässig Leute, die morgens nicht aufstehen mögen. Und wenn das Turnen freiwillig und das Bett schön warm ist, dann stehen sie nicht auf», meint Simone Mummenthaler, zuständig für die Vollzugskoordination im UG schmunzelnd. Wenn also die Männer morgens in den Sport kommen, muss sie der Sportlehrer allenfalls zuerst etwas aufwecken. So beginnt die Stunde stets mit einem Aufwärmen.

Sport in Zeiten von Corona

Corona hat auch vor den Gefängnissen nicht Halt gemacht. Mummenthaler berichtet «Es kam zu einem Unterbruch; der Sport war für eine ganze Weile verboten. Bei den ersten Lockerungen erlaubten wir den Unterricht wieder, zuerst mit Masken und ohne Körperkontakt. Wir haben mit dem Sportamt Kontakt aufgenommen und geschaut, was machbar ist. Wir mussten etwas umstellen, aber es war machbar. Wir wollten den Sport so schnell als möglich wieder aufnehmen, denn es gibt viele Eingewiesene, die gerne teilnehmen.» Das kann man gut beobachten: Einer der Insassen, ein etwas fester Herr, hat sichtlich Spass am Fussball spielen. Er hat im Gefängnis bereits einige Kilos abgenommen, da er regelmässig arbeitet, aufs Essen schaut und Sport macht, wann immer er kann. «Er hat sich im Gefängnis gesundheitlich stark verbessert. Wenn er das draussen auch machen würde, wäre das super», meint  Mummenthaler.

Siehe auch: Sport im Gefängnis Bässlergut