«Reste gibt es bei uns keine»

21. Januar 2022

Im Untersuchungsgefängnis Basel-Stadt müssen übers ganze Jahr rund 120 bis 140 eingewiesene Personen täglich drei Mal verpflegt werden. Worauf in einem solchen Umfeld zu achten ist, erläutert Bruno Senn, Leiter Ökonomie / Produktion im UG.

Es ist nicht nur die Bereitstellung der Mahlzeiten, die eine logistische Herausforderung ist: Der Menüplan in der Untersuchungshaft muss dem Alter, der Gesundheit, dem körperlichen Zustand, der Religion, Kultur und der fehlenden Bewegungsfreiheit der Inhaftierten Rechnung tragen. Meisterkoch Bruno Senn gewährt einen Blick hinter die sonst gut verschlossenen Gefängnistüren – und in die Kochtöpfe des Küchenteams.

Herr Senn, erzählen Sie uns über Ihren beruflichen Werdegang.
Nach der Kochlehre übernahm ich einige Saisonstellen, unter anderem im Palace in St. Moritz, um mein Können zu erweitern. Nach meiner Wanderzeit verschlug es mich nach Basel, wo ich im Hilton als stellvertretender Küchenchef wirken durfte.

Wie sind Sie ins Untersuchungsgefängnis gekommen?
Während meiner 10 Jahre bei Hilton habe ich die Meisterprüfung als Eidg. Dipl. Küchenchef abgelegt. Irgendwann wollte ich meinen eigenen Betrieb planen, aufbauen und führen – meine «persönliche» Küche verwirklichen. Als 1995 das Untersuchungsgefängnis bei der Heuwaage eröffnet wurde, suchte man einen Küchenchef. Seither bin ich hier.

Die Gefängnisküche ist keine Sterneküche. Haben Sie den Schritt vom Hilton zum Waaghof nie bereut?
Ein «Restaurant hinter Gittern» zu führen, ist nicht nur von der Logistik und Kulinarik her eine Herausforderung. Mit eingewiesenen Personen zusammenzuarbeiten und diese zu führen, zu betreuen, ist eine spannende Challenge. Ein weiterer Vorteil: ich muss keine Werbung betreiben, die «Gäste» kommen von alleine.

Wie viele Leute arbeiten in der Küche?
Wir sind drei Profiköche und sechs Inhaftierte, die uns zur Hand gehen – rüsten, kochen, bereitstellen, verteilen bis hin zum Abwasch. Ab der zweiten Haftzeit dürfen Eingewiesene arbeiten, so sie das wollen. Zwingen dürfen wir sie nicht. Wir haben nie Personalmangel. Die Tage vergehen definitiv schneller, wenn man arbeitet.

Ich nehme an, Sie bevorzugen Personen, die wenig auf dem Kerbholz haben?
Im Gegenteil. In der Küche arbeiten primär in U-Haft Sitzende, denen schwerwiegende Delikte vorgeworfen werden, denn die bleiben länger. Es macht wenig Sinn, jemanden anzulernen, der nach drei Wochen wieder geht. Die Zusammenarbeit mit den Insassen funktioniert reibungslos. Die Beschäftigung strukturiert ihren Tag. Das Teamwork mit uns gibt ihnen auch einen gewissen Halt – eine Win-Win-Situation. In meinen nun 27 Dienstjahren im Waaghof hatte ich noch nie einen ernsthaften Zwischenfall mit einem Gefangenen.

Wie sieht ein Standardtag für Sie aus?
Mein Tag beginnt um 6.30 Uhr – Menüplanung, Bestellwesen, Einkauf etc. Um 7 Uhr findet das Briefing mit dem Küchenteam statt. Wir gehen den Tagesplan durch und legen dann los. Nebst der Mithilfe in der Küche nehme ich an den Geschäftsleitungssitzungen teil. Zusätzlich führe ich den Hausdienst und den Produktionsbetrieb. Wir nehmen von externen Firmen einfache Arbeiten entgegen, um unsere eingewiesenen Personen zu beschäftigen.

Was ist Ihre Qualitätsanforderung an Küche und Produkt?
Wir unterstehen wie jeder andere Verpflegungsbetrieb dem Lebensmittelgesetz und werden entsprechend auch kontrolliert. Hygiene und Sauberkeit sind in einer geschlossenen Anstalt noch wichtiger als draussen. Salmonellen im Gefängnis? Keine gute Idee! Wir kaufen nur 1A-Ware ein – wenn immer möglich regional und saisonal. Wir kochen fast ausschliesslich mit Frischprodukten. Ein Teil des Gemüses, zum Beispiel, beziehen wir vom Vollzugszentrum Klosterfiechten, in top Bio-Qualität.

Nach welchen Kriterien gestalten Sie den Menüplan?
Mein Credo ist: eine gesunde, ausgewogene Ernährung. Es gibt nicht jeden Tag Fleisch, aber immer Gemüse und/oder Salat, vorab eine gute Cremesuppe und eine Sättigungsbeilage. Entsprechend unserer «Klientel» kochen wir international: asiatisch, afrikanisch, südamerikanisch, osteuropäisch, mediterran, alpin etc. Manchmal kommt auch ein Küchengehilfe mit einem Vorschlag zu mir. Wenn es finanziell machbar ist, setzen wir es um.

Was sind die besonderen Herausforderungen einer Gefängnisverpflegung?
Kultur und Religion sind bei uns ein grosses Thema. Schweinefleisch gibt es nur ca. alle zehn Tage. Es wird auf dem Speiseplan korrekt deklariert, denn auch in der Kalbsbratwurst steckt viel Schwein. Wenn wir Fisch, Lammfleisch, vegetarisch oder eben Schweiniges kochen, gibt es kein alternatives Menü. Wir bringen das Essen in Wärmewagen zu den Eingewiesenen, so kann jeder das schöpfen, was er will. Ein weiteres Thema – wie überall – sind Allergien, Unverträglichkeiten, Krankheiten wie Diabetes etc. In Absprache mit dem medizinischen Dienst kochen wir ihnen spezielle Menüs. Auch für Vegetarier und Veganer kochen wir separat. Von der Logistik her ist der Ramadan eine zusätzliche Herausforderung. Im Unterschied zu den Privatrestaurateuren müssen wir dies berücksichtigen.

Sie betreiben einen beachtlichen Aufwand.
Die Mehrheit der Leute, die in U-Haft kommen, sind mangel- oder gar unterernährt. Das ist ihrem Alter, Lebensstil und Budget geschuldet. Wenn sie wieder rauskommen, haben sie meist ein paar Pfunde mehr auf den Rippen. Das Essen im Gefängnis durchbricht die Monotonie. Es wird zum Ritual und gibt jedem Tag ein Highlight und Struktur. Die Inhaftierten freuen sich aufs Mittagessen, sie warten darauf – für kurze Zeit abschalten, den Magen füllen, den Kopf leeren. So paradox es klingt: Es ist ganz wichtig, dass wir pünktlich servieren, sonst hängt der Knastsegen schief. Die Insassen erhalten grössere Portionen als im Wirtshaus. Reste gibt es bei uns keine. Ist die Mannschaft gut ernährt, ist auch die Stimmung gut, sind die Leute zufriedener, ruhiger, ausgewogener.

Geht das nicht ins Geld?
Uns stehen pro Tag und Mann rund 11 Franken für drei Mahlzeiten zur Verfügung, inklusive Getränke. Zum Vergleich: Die Armee hat pro Tag und Soldat 8 Franken 75 Budget. Sie beziehen das Geld für eine ganze Woche, müssen die Truppe aber nur an fünf Tagen verpflegen. Wir können unsere Schützlinge übers Wochenende nicht gut in Urlaub schicken, müssen also mit 11 Franken an sieben Tagen drei Mal etwas auf den Tisch zaubern.

Wird am Essen manchmal gemeckert?
Das Essen ist frisch zubereitet, gut gekocht und wird warm und pünktlich serviert. Wir haben praktisch keine Reklamationen; höchstens mal, wenn es von etwas, das allen besonders gut geschmeckt hat, zu wenig gab.

Gibt es auch UG-Renner?
Zuoberst auf der Liste stehen das halbe Grillgüggeli, Pizza, Schnitzel paniert, Cordon Bleu, Chicken Nuggets, Fisch oder dann Süsses wie Birchermüsli, Fruchtwähen, Fotzelschnitten etc. Auch Innereien wie Leber und Kutteln sind je nach kultureller Herkunft der Eingewiesenen sehr beliebt.

Im Untersuchungsgefängnis herrscht ein striktes Alkoholverbot. Wie ist das beim Kochen?
Zum Kochen benötigen wir gelegentlich Wein. Er dient nur als Geschmacksträger. Nach dem Erhitzen ist der Alkohol eh verdampft.

Gibt es alternative Verpflegungsmöglichkeiten, dass man sich von aussen etwas bestellt?
Nein, das ist bei uns nicht erlaubt. Wir haben aber einen kleinen Kiosk mit Knabbereien, Süssigkeiten, Joghurts, Obst, Pommes Chips etc. und natürlich Zigaretten. An Weinachten, Ostern und am Geburtstag dürfen Inhaftierte «Frässpäckli» von aussen entgegennehmen. Es ist natürlich streng reglementiert, was da reindarf.

Es wird immer wieder das Gerücht kolportiert, Speisen seien mit Testosteronsenkern angereichert.
Das Lebensmittelinspektorat kommt auch bei uns unangemeldet vorbei. Stellen Sie sich vor, ich würde etwas ins Essen mischen, was nicht hineingehört. Da müsste ich subito auch die Nächte hier verbringen.

Was bekommt das Aufsichtspersonal zu essen?
Sie können das gleiche Essen bestellen wie die Eingewiesenen. Die allermeisten ziehen es aber vor, die Mittagspause ausserhalb des Gemäuers zu geniessen. Sie dürfen ja.

Gibt es zum Weihnachtsfest ein besonderes Menü?
Nicht wirklich. Für Heiligabend machen wir einen festlichen kalten Teller, der etwas reichhaltiger als üblich ist. Und am 25. und 26. Dezember gibt es zum Mittagsmenü zusätzlich ein Dessert. Das wird sehr geschätzt. Ansonsten – gute Küche wie jeden Tag.

Weitere Informationen

Ein Knast ohne Sterne

Über Alltag, Betrieb, Betreuung – und ja, übers Essen – im Gefängnis bestehen oft unwahre oder romantisierende Vorstellungen, die mit den realen Gegebenheiten wenig zu tun haben. Die Untersuchungshaft gilt als die härteste Form der Inhaftierung. Vielen Sicherheitsaspekten und der Kollusionsgefahr (Absprache zwischen Insassen) müssen Rechnung getragen werden. Dadurch sind die persönlichen Freiheiten der Angeschuldigten, insbesondere in der ersten Haftzeit, stark eingeschränkt. Die Insassen verbringen 23 Stunden in ihren Zellen – im besten Falle in einer Einzelzelle, ansonsten mit einem oder gar zwei «Mitbewohnern». Hier wird gelebt, geschlafen, gegessen und die Notdurft verrichtet. Da wird die Luft – emotional und olfaktorisch – schnell mal dünn, zumal zum Schutz der Aufsicht nur in der Abgeschiedenheit der Zelle geraucht werden darf. Weitere Sucht- und Genussmittel wie Alkohol etc., aber auch elektronische Geräte (Handy) sind verboten. Post und Besuchsgespräche werden überwacht. Mindestens drei Mal die Woche darf geduscht werden. Pro Tag können eingewiesene Personen eine Stunde in einem sichtgeschützten Innenhof ihre Runden drehen. Wechselnde Belegungen, zum Teil mit Leuten, die sich nicht mal sprachlich verstehen, ist Stress pur: ein Ausfallender, ein Introvertierter, Schnarcher, Harndränger, Vielquatscher, Streitsüchtiger – und wer ist Herr der Fernbedienung?

Durch den Freiheitsentzug von mehreren Wochen oder gar Monaten verlieren die Beschuldigten ihr soziales Umfeld, vielleicht auch ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage. Die plötzliche Isolation, die Ungewissheit über ihre Zukunft, die Monotonie, Untätigkeit und Langeweile während der «Gefangenschaft» sind überaus belastend. Die U-Haft wird meistens psychisch, oft aber auch physisch schlecht verkraftet. Ängste, Depressionen und Aggressionen sind ständige Begleiter. Manchmal verletzen sich Personen selbst, um dem drückenden Alltag des Gefängnisses durch einen Spitalaufenthalt kurzzeitig zu entkommen.

Justitia bei der Heuwaage

Das Untersuchungsgefängnis Basel-Stadt verfügt über 143 Zellenplätze plus 45 Notbetten für Polizei- und Untersuchungshaft (Männer, Frauen, Jugendliche), Ausschaffungshaft (Frauen) und den Vollzug kurzer Freiheitsstrafen. Jedes Jahr werden rund 1800 Personen eingewiesen. Rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind mit der Aufsicht und Betreuung beauftragt.

Wann ist U-Haft angezeigt?

Die Untersuchungshaft ist gesamtschweizerisch einheitlich geregelt. Gemäss Art. 221 der eidg. Strafprozessordnung muss eine Person einer Tat dringend verdächtig sein, damit die Untersuchungshaft zulässig ist. Zudem müssen zahlreiche weitere Voraussetzungen wie Flucht-, Verdunklungs-, Wiederholungs- und Ausführungsgefahr erfüllt sein. Die Untersuchungshaft ist zeitlich zu befristen (in der Regel maximal drei Monate), wobei es in der Schweiz keine absolute Maximaldauer gibt.