Ein historischer Glücksfall

1. Juli 2021

Ein wichtiger Mosaikstein im sozialen Basel und schweizweit einzigartig – das ist der Sozialdienst der Kantonspolizei Basel-Stadt. Am 1. Juli feiert er ein Jubiläum: Was vor 90 Jahren mit dem Arbeitsantritt der ersten «Polizei-Assistentin» seinen Anfang nahm, ist heute der Sozialdienst. Die sechs Mitarbeitenden entlasten mit ihrer Tätigkeit die Uniformpolizei und sind das Bindeglied zu diversen Anlaufstellen und Hilfsangeboten.

«Sehr geehrter Herr Polizeidirektor»: Der Schweizerische Kongress für Fraueninteressen wendet sich im Jahr 1922 an die Polizeidirektion der Stadt Basel.

«Liederliche Mädchen», liest er vor, «Dirnen und Arbeitsscheue.» Fredy Meier ist vor genau 30 Jahren, am 1. Juli 1991, erstmals zum Sozialdienst gestossen und hat seither trotz Abstechern in andere Sozialberufe immer wieder zurückgefunden. Er hütet zwei Ordner und eine Mappe, die vor ihm geöffnet auf dem Tisch liegen. Darin enthalten sind Unterlagen, welche die Geschichte des Sozialdiensts der Kantonspolizei Basel-Stadt dokumentieren. Es war eine andere Zeit – und eine andere Sprache –, als am 1. Juli 1931 die erste Polizei-Assistentin ihre Arbeit aufnahm. Frauen mussten kämpfen. Für ihren Platz in der Gesellschaft. Und auch für ihren Platz in der Kapo, wie die Unterlagen beweisen.

Anfänglicher Widerstand

Zu seinem Glück mit dem Sozialdienst, auf den die Kantonspolizei Basel-Stadt heute zu Recht mit Stolz blickt, musste das damalige Polizeidepartement regelrecht gezwungen werden. Zu diesem Schluss kommt, wer sich die Dokumente aus der Zeit kurz vor Schaffung der Stelle der ersten «Polizei-Assistentin» anschaut.

Die Idee, Frauen bei der Polizei aufzunehmen, gab es vor rund hundert Jahren in verschiedenen Städten Europas und der Schweiz. Getragen wurde diese Idee vornehmlich von Frauenvereinen. Auch in Basel wurde 1922 ein entsprechender Antrag auf Anstellung einer Polizei-Assistentin gestellt. Bis es soweit kam, sollten jedoch neun Jahre vergehen. Vieles deutet darauf hin, dass der Widerstand weniger dem Amt oder der Aufgabe, als vielmehr dem Geschlecht galt. Noch im Dezember 1930 schrieb der Vorsteher des Polizeidepartements: «Vorläufig zerbreche ich mir den Kopf darüber, was ich mit einer Dame im Departement anfangen soll.»

Für seine Abklärungen schrieb das Polizeidepartement die Städte Lausanne und Bern an, wo einzelne Frauen bereits Funktionen bei der Polizei ausübten. Die Rückmeldung aus Lausanne: «Entièrement satisfaits.» Die Rückmeldung aus Bern: «Die Schaffung der Stelle bereuen wir nicht; sie hat sich bewährt.»

Im Jahr 1931 war der Widerstand gebrochen, die Stelle ausgeschrieben. Eine der drei Bewerberinnen, die in die engere Auswahl gekommen waren: Elsa Bäumle, die in ihrem Schreiben ihr «Interesse, an gefallenen Mädchen und Frauen zu arbeiten,» bekundete. Am 1. Juli 1931 nahm sie als erste Polizeiassistentin ihren Dienst auf. Ihr Auftrag: Sich der Fürsorge für Kinder, Mädchen und Frauen in Notlagen widmen. Zwei Jahre später liess der Departementsvorsteher wissen: «Wir dürfen bekennen, dass wir unsere Polizeiassistentin nicht mehr missen möchten.»

Anforderungen an die Polizei steigen stetig

Als einer der Gründe gegen die Schaffung der Stelle der Polizeiassistentin wurde die Berechnung angeführt, dass sich die Polizeiassistentin wohl nur um sechs Fälle pro Jahr zu kümmern haben werde. Die Prognose erwies sich als falsch: Elsa Bäumle hatte nach ihrem ersten Jahr rund hundert Fälle bearbeitet. Damit zeigte sich von Beginn weg eine Konstante, die sich wie ein roter Faden durch die 90 Jahre Geschichte des Sozialdiensts zieht: Es gab viele Einsätze, und es wurden immer mehr. In den Folgejahren nahm die Zahl der Einsätze stetig zu, es mussten zusätzliche Mitarbeiterinnen angestellt werden. 1978 umfasste die Equipe drei Polizeiassistentinnen und einen zugeteilten Detektiv. 1990 wurde den Medien eine Zunahme der Hilfeleistungen und Beratungen um 87% über die vorigen fünf Jahre mitgeteilt. Im Covid-19-Jahr 2020 haben Hilfeleistungen und Beratungen um rund 20 bis 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr zugenommen und das mittlerweile sechsköpfige Team stark gefordert. Dieser Zustand hält mit andauernder Pandemie an.

Gesellschaft im Wandel

«Unsere Aufgabe ist im Kern seit 90 Jahren dieselbe: Es ist die Krisenintervention», schlägt Fredy Meier den Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart. Aber die Welt ist heute eine andere als 1931. Die gesellschaftliche und technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte habe das Leben schneller, rauer, anonymer gemacht. Die Menschen erreichen heute ein höheres Alter, die Gefahr von Altersverwahrlosung steigt. «Mit der zunehmenden Individualisierung werden viele Aufgaben, die früher die Gesellschaft übernommen hat, an den Staat übertragen», erklärt Fredy Meier. «Es ist eine Entwicklung, die in Städten stärker ausgeprägt ist als auf dem Land.» Eine zusätzliche Gefährdung könne die 24-Stunden-Gesellschaft bedeuten, wenn man nichts verpassen will.

Nicht nur das Gefährdungspotenzial wächst, stellt Fredy Meier fest: «Die Anspruchshaltung der Bevölkerung ist stark gestiegen.» Und wie so häufig, wenn die Zuständigkeit nicht ganz klar anders geregelt ist, wird in der Regel bei auftretenden Problemen als erstes die Polizei gerufen. In der Summe ist das Resultat dieser Entwicklungen eine stetig wachsende Anspruchsgruppe trotz gleichbleibendem Grundauftrag.

Die Kriseninterventionen des Sozialdiensts

Geht die Meldung einer Person in einer schwierigen Lebenssituation ein, kümmert sich ein Team des Sozialdiensts um die Abklärung. Geht von der Person eine Eigen- oder Fremdgefährdung aus? Kommt sie alleine zurecht oder braucht sie zusätzliche Unterstützung? Je nach Antwort auf diese und weitere solcher Fragen, kann eine Triage vorgenommen und die Person weitervermittelt werden, falls nötig.

«Wenn wir zu einem solchen Einsatz gerufen werden, treffen wir häufig auf eine Multi-Problem-Belastung», sagt Fredy Meier und erwähnt fehlende Schutzfaktoren im Leben der betroffenen Person. Diese sind stabilisierende Säulen wie beispielweise gute Gesundheit, intakte Familie, eine stabile Beziehung, eine Unterkunft, solide Finanzen oder eine gesicherte Arbeitsstelle. Fallen solche Säulen weg, schwindet die Stabilität.

Obwohl gerade bei Personen mit suizidalen Tendenzen der Eingriff des Sozialdiensts auch Leben rettet, ist Dankbarkeit von den Betroffenen nicht immer zu erwarten. Die Gesellschaft reagiere zunehmend kritisch auf einseitig verordnete Schutzmassnahmen, erklärt Fredy Meier und findet folgenden Vergleich: «Ein Arzt, der im Operationssaal ein Leben rettet, ist ein Held. Einem, der mit einer fürsorgerischen Massnahme eingreift und so vielleicht ein Leben rettet, jubelt niemand zu.»

Eine andere Form der Krisenintervention ist die Betreuung von Personen in Extremsituationen, also von Opfern, deren Angehörigen oder Augenzeugen von traumatisierenden Ereignissen. Dies ist eine bedeutende Entlastung der Uniformpolizei und der Rettung Basel-Stadt, die sich bei solchen Einsätzen ihren Kernaufgaben widmen können. Davon zeugt ein Rapport aus den 90er-Jahren, als zwischenzeitlich die Pikett-Lösung des Sozialdiensts nicht klar geregelt war: Ein Kollege vom Alarmpikett bemängelte, dass die Uniformpolizei wegen der Nichterreichbarkeit des Sozialdiensts für Stunden mit den Auswirkungen eines Falls von Häuslicher Gewalt blockiert gewesen sei.

Polizeiliche Sozialarbeit

Trotz zunehmender Zahl an Hausbesuchen, nicht immer muss ein Team des Sozialdiensts ausrücken. Manchmal reicht auch ein Kontrollanruf, um sich ein klares Bild zu verschaffen. Personen in schwierigen Lebenssituationen sind häufig bereits bekannt. So mancher Rapport musste nicht geschrieben werden oder die Uniformpolizei musste nicht ausrücken dank der Erfahrung des Sozialdiensts mit seiner Kundschaft.

Die Sozialarbeit innerhalb der Organisationsstruktur einer Polizei ist einzigartig in der Schweiz und birgt viele Vorteile: Der Sozialdienst entlastet die Uniformpolizei, bietet direktbetroffenen Personen professionelle Hilfe an, dient dank seinem umfassenden Netzwerk auch Anlaufstellen oder Dienststellen anderer Departemente zu und bietet wichtige Amtshilfen an. Entstanden aus dem Kampf für die Anerkennung von Frauen im Polizeidienst, ist der Sozialdienst ein historischer Glücksfall, von dem die Kantonspolizei und die Bevölkerung heute noch profitieren.

Info: Von der Polizeiassistenz zum Sozialdienst

Die Polizeiassistentinnen als «Unsere Mitarbeiter» vorgestellt. Artikel in den Personal-Informationen Basel-Stadt, kurz pibs, im August 1978.

Ab 1981 sollten sich die Polizeiassistentinnen nicht mehr nur um Kinder und Frauen kümmern, sondern auch um Männer. 1985 stiess der erste männliche Sozialarbeiter zum Team. Der Dienst für Polizeiassistenz wurde am 1. Januar 1995 in Sozialdienst der Kantonspolizei Basel-Stadt umbenannt.

Der Sozialdienst ist zugleich die Fachstelle Häusliche Gewalt der Kantonspolizei Basel-Stadt sowie Ausbildungsstelle für Studierende der Sozialarbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHWN).

Coronavirus: Ein zusätzlicher Stressfaktor

Es ist kaum möglich, im Jahr 2021 das Thema Covid-19 zu umgehen. Das betrifft auch die Arbeit des Sozialdiensts. Seit Ausbruch der Pandemie verzeichnet er eine signifikante Verschärfung der Suchtproblematik und eine zunehmende Anzahl Fälle, die der Psychiatrie vermittelt werden müssen. Die Pandemie hat dazu geführt, dass viele Personen unter dem Wegfall von Schutzfaktoren wie ein strukturierter Tagesablauf oder ein sicheres Einkommen leiden. Hinzu kommen die diffuse Bedrohungssituation durch eine unbekannte und in ihrer Gefährlichkeit schlecht einschätzbare Krankheit sowie der Stress wegen allzu grosser und andauernder Nähe, wenn in engen Stadtwohnungen Ausweichmöglichkeiten fehlen.